Schizophrenie

 

 

Über den Mythos der Schizophrenie
von Dr. med. Andor E. Simon
Oberarzt Klinik Bruderholz/Baselland, Externe Psychiatrische Dienste,
Leiter Spezialsprechstunde zur Abklärung und Behandlung psychotischer Frühphasen

 

Schizophrenien gehören zu den so genannten Psychosen
Unter den psychischen Krankheiten, die nach wie vor von der breiten Öffentlichkeit zum einen wenig verstanden, zum andern mit Angst und Vorurteilen wahrgenommen wird, steht zweifellos die Schizophrenie an vorderster Stelle. Schizophrenien gehören zu den so genannten Psychosen, die neben Neurosen und Persönlichkeitsstörungen zu den wichtigsten psychischen Krankheitsgruppen gehören. Neben den Schizophrenien gehören auch manisch-depressive Störungen zu den Psychosen.  Schizophrene Psychosen gehören jedoch zu den schwersten Krankheitsbildern überhaupt und verursachen unter den psychiatrischen Krankheiten die höchsten Kosten. Denkt man an schizophrene Menschen, denkt man an Menschen, die sich seltsam verhalten, vielleicht aggressiv oder vereinsamt leben, Stimmen hören und Wahnideen haben, sich verfolgt fühlen. Man denkt an Menschen mit einem schweren, unheilbaren Leiden und meidet den Kontakt mit ihnen. Als Arbeitnehmer gelten sie als nicht willkommen.

 

Der Verlauf kann günstig sein
Aber nicht nur die breite Öffentlichkeit, auch Ärzte sind heute vielfach noch der Ansicht, dass der Verlauf schizophrener Krankheiten ungünstig ist. Aus Langzeitstudien, die in den 70er Jahren u. a. auch in der Schweiz durchgeführt wurden, wissen wir aber, dass der Verlauf häufig auch günstig sein kann.
 
Immer deutlicher hat sich in den letzten Jahren heraus kristallisiert, dass ein Einheitsbegriff der Schizophrenie nicht statthaft ist. Mit anderen Worten: Wenn man über eine Schizophrenie spricht, sollte man eher von Schizophrenien oder schizophrenen Psychosen sprechen, da sich diese teilweise ganz unterschiedlich präsentieren. So kann es sein, dass sich solche Menschen ganz zurück ziehen, nicht aber Stimmen hören oder andere Halluzinationen erleben, oder es kann sein, dass ein Mensch mit Halluzinationen durchaus arbeitsfähig und sozial vollständig integriert bleiben kann, oder es kann sein, dass jemand in seinem Leben nur eine Episode, ein anderer auch mehrere Episoden mit psychotischen Symptomen erleben kann. Das Verständnis der Öffentlichkeit den schizophrenen Krankheiten gegenüber muss sich also nach diesem vielfältigen klinischen Bild richten. Voreingenommene Meinungen und Urteile sind nicht berechtigt.

 

Früherkennung und frühzeitige Behandlung beeinflussen den Verlauf günstig
Eine weitere Erkenntnis, die aus vielfältigen Forschungsarbeiten der letzten Jahre hervorgegangen ist, betrifft die frühe Erkennung schizophrener Krankheiten. Dieses Bestreben ist in der Regel nicht einfach. Es geht dabei darum, Menschen, die an schizophrenen Erkrankungen leiden oder auch solche, bei denen hierfür ein erhöhtes Risiko besteht, möglichst frühzeitig zu erkennen. Wesentlich einfacher ist dieses Unterfangen bei jenen Menschen, die bereits unter Krankheitssymptomen leiden. Es scheint heute genügend Evidenz vorzuliegen, dass eine frühzeitige Behandlung den Verlauf günstig beeinflussen könnte. Je kürzer die unbehandelte Psychose dauert, desto günstiger scheint ihre Prognose. Wenn ein junger Mensch ein Jahr vor Schul- oder Lehrabschluss an einer schizophrenen Krankheit zu leiden beginnt, dann lohnt es sich auf jeden Fall, alles daran zu setzen, dass er diese Ausbildung abschliessen kann. Muss er die Ausbildung unter- oder gar ganz abbrechen, stehen die Möglichkeiten einer qualitativ günstigen Sozialisierung, d. h. der Aufbau einer beruflichen und zwischenmenschlichen Stabilität, ungleich schlechter. Auch wenn die Symptome nach Ausbildungsabschluss weiter bestehen, ist der Ausgangspunkt für den Betroffenen ein ganz anderer. Eine frühe Behandlung beinhaltet auch die Betreuung der Familien, die mit ihren Kindern und Geschwistern vielfach einen langen Weg gegangen sind und sich mit der Zeit erschöpfen. Der Einbezug der Familien gehört zur angemessenen Behandlung und Betreuung von Betroffenen.

 

Problem Cannabis
Problematisch ist oft auch der Gebrauch von Cannabis. Viele Menschen in schizophrenen Frühphasen konsumieren Cannabis, um sich zu entspannen und ihre Ängste zu behandeln. Gerade bei diesen Menschen aber wirkt Cannabis wie "Öl aufs Feuer geschüttet", indem es psychotische Symptome begünstigen und bei Menschen, die noch keine Symptome, aber eine Veranlagung zur psychotischen Erkrankung haben, auch eine erste psychotische Episode auslösen kann. Da schizophrene Psychosen im Vergleich zum Beispiel zur Blutzuckerkrankheit oder zum Bluthochdruck eher zu den selteneren Krankheiten gehören [pro Jahr erkranken circa 10 bis 20 Menschen pro 100'000 Einwohner an einer schizophrenen Psychose] gehört das Wissen über ihre Früherkennung auch nicht unbedingt zum "Allgemeingut" praktizierender Ärzte. Gerade wegen dieses eher seltenen Vorkommens ist es deshalb von ganz grosser Bedeutung, dass sich psychiatrische Fachärzte in diesem Gebiet weiter spezialisieren und Möglichkeiten anbieten, damit Betroffene und Angehörige ohne lange Wartezeiten niederschwellig Beratung aufsuchen können. Seit über einem Jahr bieten zum Beispiel die "Externen Psychiatrischen Dienste" des Kantons Baselland ein solches Angebot als Prototyp an. Andere psychiatrische Institutionen in der Schweiz sind im Begriffe, ähnliche Spezialsprechstunden zu etablieren. Da sich schizophrene Psychosen in ihren Anfangsstadien meist im späten Jugend- und frühen Erwachsenenalter manifestieren, ist überdies von Bedeutung, dass solche Spezialsprechstunden nicht nur von Erwachsenenpsychiatern auf der einen Seite, und nicht nur von Jugendpsychiatern auf der andern Seite angeboten werden. Vielmehr ist von Bedeutung, dass Jugend- und Erwachsenenpsychiater zusammen schliessen und solche Dienstleistungen zusammen anbieten.

 

Aufklärungsarbeit
Ein wesentlicher Beitrag in der Früherkennung und Frühbehandlung psychotischer Frühphasen leistet die Aufklärungsarbeit. Eine solche müsste sich im Idealfall einerseits an Berufsgruppen richten, die mit diesen Patienten zusammenkommen - Hausärzte, Kinder- und Frauenärzte, Schulpsychologische Dienste, Lehrer, Ausbildner - andererseits auch an die Öffentlichkeit. Die Aufklärung der Öffentlichkeit ist oft verbunden mit der Angst, dass "schlafende Hunde" geweckt würden, aber auch, dass junge Menschen, die beispielsweise in einer entwicklungsbedingten Krise stecken, den Glauben entwickeln, an einer Psychose zu leiden und sich in eine Behandlung begeben, derer sie gar nicht bedürften. In der Öffentlichkeitsarbeit geht es aber nicht um die Verunsicherung der Allgemeinbevölkerung, sondern darum, dass meist jene Menschen reagieren, die ohnehin Hilfe suchend sind und unter entsprechenden, vielleicht schon psychotischen Symptomen leiden. Betroffene und ihre Familien fühlen sich dann angesprochen und können sich an einen Dienst wenden, ohne lange Wartezeiten in Kauf nehmen zu müssen. Natürlich kommt es auch dann vor, dass Menschen mit anderen Leiden erfasst werden, doch sind auch diese Hilfe suchend und profitieren vom Vorteil, früh erfasst und einer Betreuung zugeführt worden zu sein.
 
Es wird deutlich, dass Aufklärungsarbeit alleine nicht genügt, und dass eine Spezialsprechstunde alleine ebenfalls nicht genügt. Eine Spezialsprechstunde ist nur dann sinnvoll, wenn Aufklärungsarbeit stattfindet, und Aufklärungsarbeit ist nur dann sinnvoll, wenn ein "Auffangbecken", also eine Spezialsprechstunde, vorhanden ist. Reicht dies?

 

Mangelnde Krankheitseinsicht
Unter den Menschen mit schizophrenen Psychosen gibt es einen beträchtlichen Anteil, die sich durch mangelnde Krankheitseinsicht auszeichnen. Nur selten suchen diese selber eine Dienstleistung auf, auch wenn eine Aufklärungsarbeit sie erreicht. Häufig schlagen auch Versuche der Familien und Freunde fehl, diese für eine Abklärung zu motivieren. In solchen Fällen genügt eine Spezialsprechstunde alleine nicht. Wenn eine Spezialsprechstunde nicht nur Patienten abklären und behandeln will, die eine gute Krankheitseinsicht haben, von sich aus erscheinen und daher wohl einen ohnehin günstigeren Krankheitsverlauf haben, muss sie sich auch peripher ausrichten, d. h. Möglichkeiten anbieten, die den Brückenschlag zum Patienten gewährleisten. Eine solche Möglichkeit sind so  genannte "mobile Teams", die auch Hausbesuche durchführen können, ähnlich wie Notfallärzte dies in entsprechenden medizinischen Notfällen tun.

 

Spezialsprechstunden
Dies ist eine Möglichkeit, nicht nur der oft mangelhaften Krankheitseinsicht des Patienten etwas beizukommen, sondern auch der oftmals schon etablierten Antriebslosigkeit, die es dem Patienten erschwert, von sich aus irgendwelche Schritte zu unternehmen. Solche integralen Dienstleistungen sind in der Schweiz Mangelware. Im "Pionierzentrum" dieser Arbeit, in Melbourne/Australien, ist eine solche integrale Dienstleistung seit Jahren erfolgreich umgesetzt worden. Auch in anderen Ländern wurden diese etabliert. Es wäre wünschenswert, dass auch in der Schweiz regional solche Dienstleistungen eingerichtet werden, d. h. peripher ausgerichtete und niederschwellige, spezialisierte Spezialsprechstunden, die parallel zu einer fortwährenden Aufklärungsarbeit ihre Dienste anbietet. Solche Dienstleistungen sollten regional etabliert und vernetzt werden und keine Monopolfunktion erhalten, da Betroffene und Familien nahe ihrem Wohnort Hilfe brauchen. Die Vernetzung ist wichtig, um die Qualität der Spezialsprechstunden zu verbessern, was schliesslich den Betroffenen und Familien zugute kommt. Wenn es gelingt, mit einer solchen Früherkennungsarbeit nur einige Verläufe schizophrener Krankheiten günstig zu beeinflussen und vor einer Chronifizierung zu schützen, dann ist nicht nur Betroffenen und ihren Familien geholfen, sondern es werden erhebliche Kosten eingespart, dies zuletzt auch dadurch, dass die Betroffenen wieder sozial integriert werden können. Hierzu bedarf es aber Mittel für Dienstleistungen und mit ihr Mittel zur Aufklärungsarbeit. Die bestehenden gesundheitlichen Versorgungssysteme dürften dieser Aufgabe derzeit nicht genügen.


Erste Anzeichen, Merkmale

  • Soziale Isolierung, Zurückgezogenheit
  • Beeinträchtigung der Rollenerfüllung im Beruf, in der Ausbildung oder im Haushalt
  • Absonderliches Verhalten, zum Beispiel Sammeln von Abfällen, Selbstgespräche in der Öffentlichkeit, Horten von Lebensmitteln
  • Vernachlässigung der Körperpflege
  • Abgestumpfte, verflachte oder der Situation nicht angepasste Gefühlsregungen
  • Abschweifende und unverständliche Sprache oder Verarmung der Sprache
  • Eigentümliche Vorstellungen, die das Verhalten beeinflussen (Aberglaube, Hellseherei, Telepathie, "sechster Sinn",  "andere können meine Gefühle spüren"
  • Ungewöhnliche Wahrnehmungserlebnisse, zum Beispiel die Anwesenheit einer in Realität nicht vorhandenen Kraft zu spüren
  • Mangel an Initiative, Interesse, Energie
  • Konzentrationsstörungen, Schlafstörungen, Depression, Unruhe, Angst
  • Leistungsknick, Schwierigkeiten im Beruf, in der Schule
  • Beruflicher Abstieg, Verlust des Ausbildungs- oder Arbeitsplatzes
  • Verschlechterung in der Beziehungsfähigkeit (Partnerschaft, Familie, Beruf)
  • Konsum von Drogen
  • Alter unter 30 (auch späterer Beginn möglich)
  • Einbussen der sozialen Leistungsfähigkeit
  • Sozialer Rückzug
  • Gefühle des Andersseins
  • Störungen des Denkens
  • Visuelle und akustische Wahrnehmungsveränderungen